Fünftes Buch

Das Buch von der Liebe

Zweiter Canto

Satyavan

An diesem Schicksalstag kam ihr alles in den Sinn,

Die Straße, die nicht in ernste Tiefen einzudringen wagte

Sondern sich abwandte, fliehend menschlichen Heimen zu,

Die Wildnis mit ihrer gewaltigen Eintönigkeit,

Der Morgen, wie ein glanzvoller Seher droben,

Die Passion der Gipfel, die im Himmel sich verlieren,

Das titanische Geraune der endlosen Wälder.

Als wäre ein kleines Türchen zur Freude dort,

Eingerahmt von stimmlosem Hinweis und magischem Wink,

Lag da am Rande einer unbekannten Welt

Die Rundung einer sonnigen Abgeschiedenheit;

Haine mit seltsamen Blumen wie Augen neugieriger Nymphen

Spähten aus ihrer Verborgenheit in den offenen Raum,

Zweige, wispernd einem beständigen Lichte zu,

Bargen in sich eine gedämpfte und geschirmte Glückseligkeit,

Und langsam wehte ein träger unsteter Wind

Wie ein flüchtiger Seufzer des Glückes dahin

Über schläfriges Gras, verziert mit Grün und Gold.

Verborgen in des Waldes Schoße der Einsamkeit

Riefen zwischen den Blättern die Stimmen der Bewohner,

Süß wie Sehnsüchte, verliebt und ungesehen,

Schrei gab Antwort dem leis beharrlichen Schrei.

Dahinter schliefen smaragdgrüne stumme Abgeschiedenheiten,

Schlupfwinkel einer inbrünstigen Natur, verborgen, allem verschlossen

Außer für ihre eigene verlorene und wilde Schau.

Die Erde, in diesem herrlichen Refugium frei von Sorgen,

Summte der Seele ein Lied von Kraft und Frieden.

Nur ein Zeichen war da von einem menschlichen Schritt:

Ein einziger Pfad, schmal und pfeilartig geschossen

In den Schoß dieses weiten und geheimen Lebens,

Durchdrang den ungeheuren Traum der Einsamkeit.

Hier traf sie zum ersten Mal auf der ungewissen Erde

Den einen, für den ihr Herz von so weit gekommen war.

Gleich einer Seele, die vor dem Hintergrund der Natur

Für einen Augenblick in einem Haus des Traumes heraussticht,

Erschaffen vom glühenden Atem des Lebens,

So erschien er vor dem Saum des Waldes,

Eingebettet zwischen grünem Relief und goldnem Strahl.

Wie eine Waffe des lebendigen Lichtes,

Aufrecht und erhaben wie eine Lanze Gottes,

Führte seine Gestalt den Glanz des Morgens.

Edel und klar wie die weiten friedvollen Himmel,

War seine Stirn eine Tafel junger Weisheit;

Die gebieterische Schönheit der Freiheit zeichnete seine Glieder,

Die Freude des Lebens lag auf seinem offenen Gesicht.

Sein Blick war ein weiter Tagesanbruch der Götter,

Sein Haupt war das eines jugendlichen Rishis, berührt vom Licht,

Sein Körper war der eines Liebhabers und eines Königs.

In der herrlichen Morgendämmerung seiner Kraft,

Erbaut wie eine sich bewegende Statue beseligender Freude,

Illuminierte er den Saum der Waldseite.

Aus der unwissend eifrigen Mühsal der Jahre,

Verlassend das laute Drama der Menschen, war er gekommen,

Hergeführt von der Weisheit eines widrigen Schicksals,

Um die uralte Mutter in ihren Hainen zu treffen.

Gediehen war er in ihrer göttlichen Gemeinschaft

Als Pflegekind der Schönheit und Einsamkeit,

Erbe von Jahrhunderten einsamer Weiser,

Ein Bruder von Sonnenschein und Himmel,

Ein Wanderer, der mit Tiefe und Schneide verkehrt.

Als Veda -Kenner des ungeschriebenen Buches,

Der die mystische Schrift ihrer Formen sorgfältig liest,

Hatte er ihre Hierophant-Bedeutungen erfasst,

Ihre sphärisch unermesslichen Vorstellungen erfahren,

Belehrt durch Erhabenheiten von Fluss und Wald,

Durch Stimmen von Sonne, Stern und Flamme,

Durch Gesang der zauberhaften Sänger auf den Zweigen

Und der wortlosen Belehrung von vierfüßigen Wesen.

Vertrauensvoll ihren bedächtig großen Händen helfend,

Gab er sich ihrem Einfluss hin wie die Blume dem Regen

Und ward, wie Blume und Baum natürlich wachsen,

Weiter durch die Berührungen ihrer formenden Stunden.

Die Meisterschaft freier Naturen war die seine

Sowie deren Bejahen von Freude und geräumiger Ruhe;

Eins mit dem einzigen Geist, der in allem wohnt,

Legte Erfahrung er der Gottheit zu Füßen;

Sein mentaler Geist war offen für ihren unendlichen Geist,

Sein Tun war im Einklang mit ihrer Urkraft;

Sein sterblich Denken hatte er dem ihren unterworfen.

An diesem Tag war er von seinen gewohnten Wegen abgeschweift;

Denn Einer, kennend die Last eines jeden Augenblicks,

Der in all unseren bedachten oder sorglosen Schritten gehen kann,

Hatte den Bann des Schicksals auf seine Füße gelegt

Und ihn zum blühenden Waldesrande gelockt.

Ihr erster Blick, der des Lebens Millionen Formen

Unbefangen aufnahm, um sein Schatzhaus zu füllen

Zusammen mit Himmel, Blume, Berg und Stern,

Verweilte eher auf dem hellen harmonischen Bild.

Dieser sah das grüne Gold der schläfrigen Wiese,

Die Gräser, die beim sachten Schreiten des Windes zitterten,

Die Zweige, heimgesucht vom Ruf des wilden Vogels.

Wach für die Natur, des Lebens halb erst gewahr,

Der begierige Gefangene aus dem Unendlichen,

Der unsterbliche Ringer in seinem sterblichen Haus

Voll Stolz, Macht und Leidenschaft eines kämpfenden Gottes,

Sah er dieses Bild einer verhüllten Gottheit,

Dies denkend Meistergeschöpf der Erde,

Dies jüngste Werk der Schönheit der Sterne,

Sah aber diese wie andere schöne und gewöhnliche Formen,

Die der Künstler-Geist nicht braucht für sein Werk

Und in schattigen Räumen der Erinnerung beiseite legt.

Ein Blick, eine Wendung fügt unser schwankend Geschick.

So in der Stunde, die am tiefsten sie berührte,

Wandernd ungewarnt vom bedächtigen äußeren Mental,

Bewunderte der unachtsame Späher unter ihrer Augenlider Zelt

Unbekümmert Schönheit und weckte nicht

Den Geist ihres Körpers für seinen König.

So wäre auf zufällig unwissenden Straßen sie fast vorbeigegangen,

Verfehlend den Ruf des Himmels, verlierend das Ziel des Lebens,

Doch der Gott berührte zur rechten Zeit ihre bewusste Seele noch.

Ihr Blick wurde fest, eingefangen und alles wurde anders.

In idealen Träumen weilte ihr mentaler Geist zunächst,

Jene vertrauten Verwandler irdischer Zeichen,

Die aus Bekanntem einen Hinweis auf ungesehene Sphären machen,

Und sah in ihm den Genius dieses Ortes,

Eine Symbolgestalt, die inmitten der Erde Szenen steht,

Ein König des Lebens, umrissen in zarter Luft.

Doch war dies nur die Träumerei eines Augenblicks;

Denn plötzlich sah ihr Herz ihn an,

Das inbrünstige Sehen, wie es Denken nicht vermag,

Und wusste ihn sich näher als die eigenen Fasern.

Alles war augenblicklich gepackt und überwältigt,

Alles in nichtbewusste Ekstase Gehüllte

Oder unter der Einbildung bunten Lidern

In einer weiten Siegelluft des Traumes Gehobene

Brach flammend hervor, um die Welt neu zu erschaffen,

Und in dieser Flamme wurde sie zu Neuem geboren.

Aus ihren Tiefen erhob sich ein mystischer Tumult;

Kraftvoll, aufgeschreckt wie ein sorglos Träumender,

Stürmte Leben, um aus jedem Sinnestor zu äugen:

Gedanken, unklar und froh in Mondnebel-Himmeln,

Gefühle, wie wenn ein Universum sich gebiert,

Fegten durch den Trubel im Raume ihrer Brust,

Worin ein Schwarm von goldnen Göttern drang:

Erhoben zu einer Hymne der Priester des Wunders

Tat ihre Seele die Tore weit für diese neue Sonne auf.

Eine Alchemie war am Werk, die Verwandlung kam;

Das gesandte Antlitz hatte den Bann des Meisters gewirkt.

In dem namenlosen Licht zwei sich nahender Augen

Traf ihre Tage eine geschwinde und schicksalhafte Wende

Und spannte sich zu einem Schimmer unbekannter Welten.

Erzitternd vom mystischen Schock schlug hoch dann ihr Herz

In ihrer Brust und schrie wie ein Vogel auf,

Der den Gefährten hört auf einem Nachbarzweig.

Rasch trampelnde Hufe, stockende Räder hielten an;

Der Wagen stand wie ein gebremster Wind.

Und Satyavan schaute aus den Pforten seiner Seele

Und fühlte den Zauber ihrer wohlklingenden Stimme

Die Purpur-Atmosphäre seiner Jugend erfüllen und ertrug

Das eindringliche Wunder eines perfekten Angesichts.

Überwältigt vom Nektar eines seltsamen Blumenmundes,

Angezogen von Seelenräumen, die um eine Stirn sich auftun,

Gab er dem Anblick sich hin wie ein Meer dem Mond

Und erlitt einen Traum von Schönheit und Wandlung,

Entdeckte den Strahlenkranz um das Haupt eines Sterblichen,

Bewunderte eine neue Göttlichkeit in Dingen.

Seine selbstbezogene Natur verging wie im Feuer;

Sein Leben ward hineingenommen in das Leben eines anderen.

Die prachtvollen einsamen Idole seines Gehirns

Warfen sich nieder aus ihren hellen Genügsamkeiten,

Wie bei der Berührung von einer neuen Unendlichkeit,

Um eine Gottheit zu verehren, größer als die eigene.

Eine unbekannte gebieterische Kraft zog ihn zu ihr.

Staunend kam er über das goldne Gras:

Blick traf auf Blick und verharrte in des Sehens Umarmung.

Da war ein Antlitz, edel, ruhig und herrlich,

Gleichsam umgeben von einem Strahlenglanz des Denkens,

Eine Spanne, ein Bogen meditierenden Lichtes,

Als wäre ein geheimer Nimbus halb zu sehen;

Ihr inneres Sehen, sich noch erinnernd, erkannte

Eine Stirn, die die Krone ihrer ganzen Vergangenheit trug,

Zwei Augen, ihre treuen und ewigen Sterne,

Freund- und Herrscheraugen, die ihre Seele erheischten,

Augenlider, bekannt durch viele Leben, weite Rahmen der Liebe.

Er traf in ihrem Schauen seiner Zukunft Blick,

Eine Verheißung und eine Gegenwart und ein Feuer,

Sah eine Verkörperung von äonischen Träumen,

Ein Mysterium des Entzückens, nach dem alles

In dieser Welt der kurzen Sterblichkeit sich sehnt,

Ihm ganz zu eigen gemacht in stofflicher Form.

Diese goldne Gestalt, gegeben in seine Hand,

Verbarg in ihrer Brust den Schlüssel zu allen seinen Zielen,

Ein Zauber, um die Seligkeit des Unsterblichen auf die Erde zu bringen,

Um des Himmels Wahrheit mit unserem sterblichen Denken zu einen,

Um Erdenherzen näher an die Sonne des Ewigen zu heben.

In diesen Geistesgrößen, nun leibhaft hier,

Brachte der Gott der Liebe Macht aus Ewigkeit herab,

Dass Leben sein neuer unvergänglicher Boden werde.

Aus unergründlichen Tiefen wogte ein Schwall seiner Leidenschaft;

Diese sprang zur Erde aus fern vergessenen Höhen,

Doch wahrte ihre Natur der Unendlichkeit.

Obwohl auf der stummen Brust dieser erinnerungslosen Weltkugel

Einander wir begegnen wie Unbekannte,

Sind unsere Leben weder fremd einander noch treffen wir als Fremde uns,

Zueinander hinbewegt von einer ursachlosen Kraft.

Die Seele kann jene Seele erkennen, die ihr Antwort gibt,

Durch trennende Zeit hinweg und, als Reisende auf des Lebens Wegen

Aufgesogen und vertieft, sich wendend wiederfinden

Vertraute Herrlichkeit in einem unbekannten Angesicht

Und berührt vom Fingerzeig jäher Liebe

Abermals Erschauern vor unsterblicher Freude,

Tragend nun für Wonne einen sterblichen Körper.

Es gibt eine Macht im Innern, die mehr weiß

Als all unsere Erkenntnisse; wir sind größer als unsere Gedanken,

Und manchmal enthüllt die Erde hier jene Schau.

Zu leben, zu lieben sind Zeichen unendlicher Dinge,

Liebe ist eine Glorie aus Sphären der Ewigkeit.

Entwürdigt, entstellt, verhöhnt von niederen Mächten,

Die ihm Namen und Gestalt und Ekstase stehlen,

Ist Liebe dennoch der Gott, der alles verändern kann.

Ein Mysterium erwacht in unserem unbewussten Gewebe,

Eine Seligkeit ist geboren, die unser Leben neu erschaffen kann.

Der Gott der Liebe wohnt in uns gleich einer ungeöffneten Blüte

Und wartet auf einen lichten Moment der Seele, oder er schweift

In seinem bezaubernden Schlaf zwischen Gedanken und Dingen;

Der Kind-Gott ist am Spielen, er sucht sich selbst

In vielen Herzen und Gemütern und lebendigen Formen:

Er verlangt nach einem Zeichen, das er zu erkennen vermag,

Und wenn es kommt, erwacht er blindlings zu einer Stimme,

Einem Blick, einer Berührung, der Kunde eines Gesichtes.

Sein Instrument das dumpfe körperliche Mental,

Himmlischer Einsicht nun nicht mehr eingedenk,

Ergreift er nun irgendein Zeichen äußeren Reizes

Als Führer im Gewimmel von Hinweisen der Natur,

Liest himmlische Wahrheiten in ähnlichen Erscheinungen der Erde,

Begehrt das Ebenbild um der Gottheit Willen,

Erahnt die Unvergänglichkeiten der Form

Und nimmt den Körper an als die Skulptur der Seele.

Der Liebe Verehrung blickt gleich mystischem Seher

Durch das Angeschaute hindurch zum Unsichtbaren,

Findet im Alphabet der Erde einen gottgleichen Sinn;

Doch der mentale Geist denkt nur: „Sieh den Einzigsten,

Auf den mein Leben lang unerfüllt gewartet hat,

Sieh den plötzlichen Beherrscher meiner Tage.“

Herz spürt nach Herz, Glied schreit nach antwortgebendem Glied;

Alles ringt nach Einheit, die es eigentlich ist.

Vom Göttlichen allzu fern, sucht der Gott der Liebe seine Wahrheit,

Blind ist das Leben und trügerisch die Instrumente

Und Mächte gibt es, die erniedrigen wollen.

Noch kann die Vision kommen, die Freude sich einfinden.

Der Kelch, der für den Nektar-Wein der Liebe taugt, ist so selten

Wie das Gefäß, dass Gottes Geburt fassen kann;

Eine Seele, vorbereitet durch tausend Jahre,

Dient einer erhabenen Herabkunft als lebendige Form.

Diese erkannten einander auch in fremder Gestalt.

Obgleich dem Sehen unvertraut, obgleich Leben und Mental

Sich verändert hatten, um neues auszudrücken,

Umfassten diese Körper doch den Lauf zahlloser Geburten

Und der Geist blieb dem Geist derselbe.

Überrascht von einer Freude, auf die sie lange gewartet hatten,

Trafen sich die Liebenden auf ihren eigenen Wegen

Als Reisende über die unbegrenzten Ebenen der Zeit,

Einander zugeführt durch schicksalsgeleitete Wanderungen in der

Selbstverschlossenen Einsamkeit ihrer menschlichen Vergangenheit

Zu einem raschen verzückten Traum künftiger Freude

Und der unverhofften Gegenwart dieser Augen.

Durch die enthüllende Herrlichkeit eines Blickes

Erwachte im Sinn formzerschmettert des Geistes Erinnerung.

Der Nebel ward zerrissen, der zwischen zwei Leben lag;

Ihr Herz unverhüllt und seines ihr zugewandt, um sie zu finden;

Angezogen wie Stern von Stern im Himmel

Staunten sie voll Freude einander an

Und woben Wesensverwandtschaft im stillen Schauen.

Es verging ein Augenblick, der ein Strahl der Ewigkeit war,

Eine Stunde begann, die Matrix einer neuen Zeit.

Ende des zweiten Cantos

Share by: